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Protist of the year

2018 Tintinnen

Gehäusebauende Wimpertiere

In diesem Jahr wurden Organismen zu „Einzellern des Jahres“ gekürt, denen jeder von uns schon beim Baden im Meer begegnet ist; allerdings haben wir wegen der geringen Größe dieser harmlosen Organismen von dem Zusammentreffen nichts bemerkt.

Bei den ausgewählten Einzellern (Protisten) handelt es sich um Organismen, die sich durch den Besitz eines Zellkerns von Bakterien und Archaeen unterscheiden. Neuere molekulare Untersuchungsmethoden zeigen, dass Protisten nicht nur allgegenwärtig sind, sondern auch eine unglaubliche Vielfalt aufweisen. Sie sind damit in der Lage, sehr unterschiedliche Rollen in den Nahrungsnetzen des Meeres, Süßwassers und zu Land einzunehmen, wo sie sich hauptsächlich von Bakterien und anderen kleinen Einzellern ernähren; manche verschmähen aber auch kleine Tiere nicht oder treten als Parasiten bzw. Krankheitserreger auf. Ohne diese mikroskopisch kleinen Protisten würden die Nahrungsnetze auf unsere Erde nicht mehr funktionieren, mit unabsehbaren Folgen auch für den Menschen.

Die diesjährigen Einzeller des Jahres – die Tintinnen, eine Gruppe gehäusebauender Wimpertiere – werden von Assoz.-Prof. Dr. Sabine Agatha (Sabine.Agatha@sbg.ac.at) von der Universität Salzburg präsentiert.

Morphologie und Lebensweise Tintinnen sind eine Gruppe von ca. 1000 Wimpertier-Arten (Ciliaten), die vasenförmige Gehäuse von meist 50–200 µm Länge bauen. Je nach Art ist das proteinhaltige Gehäuse im Lichtmikroskop glasartig, komplett mit Fremdpartikeln besetzt oder aus einem glasartigen Kragen und einer mit Fremdpartikeln besetzten Schale aufgebaut. Kunstvolle Details sind bei diesen Gehäusen im Rasterelektronenmikroskop erkennbar (feine Rippen, kleine Poren oder winzige Zähne an der Mündung). Während das Gehäuse wohl Schutz vor Fressfeinden bietet, sind Sinn und Zweck dieser fein gearbeiteten Strukturen unbekannt. Die Zelle ist mit einem kontraktilen Stiel am Boden des Gehäuses befestigt und schaut nur mit dem Vorderende heraus; bei Beunruhigung zieht sich die Zelle komplett in den hinteren Gehäuseteil zurück. Kräftig schlagende Wimpernfächer umgeben das Vorderende der Zelle. Sie dienen der Fortbewegung und der Ernährung, während die übrige Zelloberfläche meist nur kurze Wimpern (Cilien) trägt. Diese Wimpern sind nicht zu verwechseln mit den namensgleichen menschlichen Strukturen; sie sind nur ca. 0,3 µm im Durchmesser und beweglich. Im Gegensatz zu anderen Eukaryonten besitzen Wimpertiere zwei Zellkern-Typen: Großkerne, die den Stoffwechsel steuern, und Kleinkerne, die die komplette genetische Information enthalten und bei den sexuellen Vorgängen eine Rolle spielen. Ja, Tintinnen können tatsächlich auch Sex haben! Die Partnerfindung erfolgt dabei vermutlich mit Hilfe von Pheromonen (chemische Botenstoffe); zumindest kennt man ein solches Verhalten schon bei anderen Wimpertieren. Bei der nachfolgenden Konjugation verschmelzen die beiden Partner innig mit ihren Vorderenden und tauschen Kerne mit einem einfachen Chromosomensatz untereinander aus. Dadurch kombinieren sie den eigenen einfachen Chromosomensatz mit dem des Partners (Rekombination). Anschließend trennen sich die Partner wieder; es entstehen also keine neuen Individuen, wie das bei sexuellen Vorgängen bei Tieren der Fall ist. Die Bildung von Ruhezysten ist bei ein paar Arten bekannt. Dabei umgibt sich die Zelle mit einer ziemlich widerstandsfähigen Kapselwand und reduziert drastisch den Stoffwechsel. Bei einer Verbesserung der Lebensbedingungen werden die Wimpertiere wieder aktiv, kommen aus ihren Zysten heraus und beginnen zu fressen und sich zu teilen. Bei guten Bedingungen teilen sich Tintinnen je nach Art etwa einmal täglich quer. Es entstehen zwei idente Individuen, wobei der hintere Teiler das Gehäuse behält, während sich der vordere Teiler ein eigenes Gehäuse bauen muss. Das Material dazu wurde vor der Teilung produziert und wird vermutlich sehr schnell, d.h. innerhalb weniger Minuten, von dem vorderen Teiler nach außen abgegeben und zu einem Gehäuse formiert. Der Prozess der Gehäuse-Bildung ist nur sehr unvollständig bekannt. Die teilweise aufgeklebten Fremdpartikel (meist mineralische Teilchen oder Bruchstücke einzelliger Algen) stammen aus der Wassersäule oder stellen unverdauliche Nahrungsreste dar, die von den einzelligen Baumeistern ausgeschieden worden waren.

Ökologie Tintinnen leben hauptsächlich im marinen Plankton, d.h. sie treiben in der Wassersäule; nur etwa ein Dutzend Arten lebt im Süßwasser. Arten mit partikelbesetzten Gehäusen sind auf Küstengewässer und das Süßwasser beschränkt, solche mit glasartigen Gehäusen kommen primär in ozeanischen Gebieten vor. Generell erstreckt sich die Verbreitung der Tintinnen von der Arktis über gemäßigte und tropische Zonen bis in die Antarktis. Einzelne Arten sind aber sehr wohl auf bestimmte Regionen beschränkt und dienen als Indikatoren für Wasserströmungen. Im mikrobiellen Nahrungsnetz spielen Tintinnen eine große Rolle, indem sie andere Planktonorganismen mit Größen von 2–20 µm fressen, u.a. giftige einzellige Algen. Sie selbst sind wiederum Beute ebenfalls winziger Ruderfußkrebse und Fischlarven. Die kräftigen Wimpernfächer am Zellvorderende erzeugen beim Fressen einen Wasserstrom, aus dem Nahrungspartikel herausgefiltert und dem Zellmund zugeführt werden. Die Verdauung erfolgt innerhalb der Zelle in kleinen Bläschen; nicht verdauliche Bestandteile werden ausgeschieden. Diese harmlosen Organismen kommen meist in Mengen von ca. 500 Individuen pro Liter in Küstengewässern vor, in ozeanischen Bereichen sind es üblicherweise nur etwa 20 Individuen pro Liter. Man mag es kaum glauben, aber auch die winzigen Tintinnen können von noch winzigeren Parasiten heimgesucht werden: ein Befall durch einige Arten einzelliger Panzergeißler (Dinoflagellaten) kann sie zeitweise stark dezimieren.

Historisches Schon mehr als 230 Jahre kennt man Tintinnen; die erste wurde 1779 von dem dänischen Zoologen O. F. Müller (1730–1784) beschrieben. Während die Gehäuse der Tintinnen recht robust sind, platzen die darin lebenden Zellen sehr leicht. Daher wurden die etwa 1000 Arten nahezu ausschließlich auf ihren Gehäuse-Merkmalen basierend beschrieben und in 75 Gattungen und 15 Familien klassifiziert. Bedeutende Monographien der Tintinnen wurden von Kofoid und Campbell (1929, 1939) publiziert; darin errichteten die beiden Autoren zahlreiche neue Arten. Neuere genetische Daten und Untersuchungen der Zellen zeigen nun aber die diagnostische Schwäche von Gehäuse-Merkmalen auf: einzelne Arten können ziemlich verschiedene Gehäuse bauen (Polymorphismus) bzw. ganz ähnliche Gehäuse gehören zu unterschiedlichen Arten (Kryptische Arten). Bislang sind Zellmerkmale in nur etwa 3% der Arten untersucht worden, und genetische Daten liegen von nur etwa 15% der Arten vor. Daher braucht es noch große wissenschaftliche Anstrengungen, die korrekte Anzahl an Tintinnen-Arten und ihre Verwandtschaftsverhältnisse zu ermitteln. Forschung Lichtmikroskopische, raster- und transmissionselektronenmikroskopische, molekulare und ökologische Methoden werden in integrativen Forschungsansätzen angewandt, um morphologische, ultrastrukturelle und genetische Daten zu erfassen. Nur so können Artenzahl und Verwandtschaftsverhältnisse von Tintinnen ermittelt und deren Rolle im marinen Nahrungsnetz verstanden werden. Wann die Tintinnen evolutiv entstanden sind, ist noch unklar; erste sichere Fossilien-Funde stammen aus dem Jura, also von vor 200–145 Mio. Jahren.